Weninger, Eveline (2008): Die ErzieherIn-Kind-Beziehung in Fremdbetreuungseinrichtungen für Kleinstkinder

Juni 28, 2008

Gliederung:

1.     Einleitung

Pädagogische Relevanz

Forschungsfrage

Methodenbeschreibung

2.     Hauptteil

Emmi Piklers Konzept

Lieselotte Ahnerts Darstellungen

Gegenüberstellungen

3.     Schluss

Resümee

ausblickende Fragen

4.     Literaturverzeichnis

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1.     Einleitung

1.1. pädagogische Relevanz

Wenn beide Elternteile bereits bald nach der Geburt ihres Kindes ins Berufsleben einsteigen, ist es häufig notwendig, dass sie während ihrer Abwesenheit eine Betreuungsperson für das bzw. die Kind(er) benötigen. Oft fällt den Eltern die Entscheidung für eine Fremdbetreuungseinrichtung nicht leicht, da sie sich um das Wohl ihrer Kinder sorgen und befürchten, dass eine Fremdbetreuung negativen Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder haben könnte. Doch dem entgegnen bereits die Ergebnisse der NICHD-Study of Early Child Care, die besagen, dass die Mutter entscheidend für die Bindungsqualität ist und diese Bindung würde durch eine Fremdbetreuung nicht beeinflusst. Diese Studie beinhaltet aber auch, dass schlechte Bindungserfahrungen des Kindes mit der Mutter durch Fremdbetreuung kompensiert werden können. (vgl. Datler et al. 2002, S.58).

Dieser Kompensationsmöglichkeit zur Folge, erscheint es interessant, der Frage nachzugehen, wie eine ErzieherIn-Kind-Beziehung in Fremdbetreuungseinrichtungen aussehen könnte. Dabei sollten aber auch Kinder beachtet werden, die ohne Eltern aufwachsen müssen, denn für sie stellt der/die ErzieherIn die primäre Bezugsperson dar. Interessant ist es diesbezüglich auf die Unterschiede zwischen familienergänzender und „familienersetzender“ Betreuung in Hinblick auf die ErzieherIn-Kind-Beziehung zu achten, da Beziehungen entscheidend für die Entwicklung von Kindern sind. Aufgrund dessen ist die differenzierte Betrachtung der Einflüsse auf die ErzieherIn-Kind-Beziehung von Notwendigkeit, um herauszufinden, welche Auswirkungen die eine bzw. die andere Betreuungsform auf die ErzieherIn-Kind-Beziehung hat. Aus diesen Überlegungen geht schließlich hervor, welche Bedürfnisse in der jeweiligen Betreuungsform besonders erfüllt werden. Anhand der anderen Betreuungseinrichtung kann man sich z.B. als Mutter orientieren, welche Schwerpunkte man zu Hause in Anlehnung an Emmi Piklers Konzept selber noch ergänzen kann. Für Einrichtungen nach Emmi Piklers Konzept könnten hingegen Lieselotte Ahnerts Ausführungen Anreiz geben, wie man die Betreuung noch optimieren könnte.

1.2. Forschungsfragestellung

Diesen Überlegungen zufolge, werde ich mich im Zuge dieser Proseminararbeit mit der Forschungsfrage: „Inwiefern lassen sich Unterschiede zwischen dem Fremdbetreuungskonzept von Emmi Pikler in Hinblick auf die Erzieherin-Kind-Beziehung zu Lieselotte Ahnerts diesbezüglichen Forschungen erkennen?“, auseinandersetzten.

1.3. Methodenbeschreibung

Diese Forschungsfrage verlangt sowohl eine Auseinandersetzung mit Emmi Piklers Fremdbetreuungskonzept, als auch mit Lieselotte Ahnerts diesbezüglichen Forschungen. Daher werde ich in einem ersten Schritt versuchen, das Fremdbetreuungskonzept von Emmi Pikler kurz zu skizzieren. Daraufhin werde ich einen Überblick bezüglich Lieselotte Ahnerts Erläuterungen über die ErzieherIn-Kind-Beziehung geben. Diese vorbereitenden Schritte bilden den Rahmen für meine Arbeit und sind notwendig, um anschließend näher auf die Forschungsfragestellung eingehen zu können. Anschließend werde ich versuchen, Schwerpunkte beider Fremdbetreuungskonzepte im Hinblick auf die ErzieherIn-Kind-Beziehung herauszuarbeiten, um in einem nächsten Schritt die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Kernpunkte hinsichtlich der ErzieherIn-Kind-Beziehung überdenken zu können. Abschließen möchte ich diese Arbeit mit einem Resümee und ausblickenden Fragen.

2.     Hauptteil

2.1. Emmi Piklers Konzept:

1946 gründete Emmi Pikler ein Säuglingsheim in Budapest, welches unter dem Namen Lóczy bekannt ist. In diesem Säuglingsheim wurden hauptsächlich Neugeborene aufgenommen, die aus diversen Gründen nicht in ihrer Familie aufwachsen konnten. Man versuchte im Lóczy die Kinder vor dem Hospitalismus zu bewahren und ihnen eine möglichst normale Entwicklung zu gewährleisten. (vgl. Pikler 1988, S. 23) Um dies zu ermöglichen, wird im Lóczy eine Beziehung zwischen PflegerInnen und Kindern grundlegend. Bedeutend für Emmi Piklers pädagogischen Ansatz ist die Einstellung, dass jedes Kind von Geburt an eine Individualität besitzt und diese muss auch im Umgang mit dem Säugling berücksichtigt werden. Emmi Pikler geht von einem angeborenen „Entwicklungspotential“ (Pikler, zit. n. Bürgel 2004, S.23) aus, das Kinder unter bestimmten Bedingungen selbstständig entfalten können. Um ein günstiges Umfeld für die Entwicklung der Kompetenzen des Kindes zu gewährleisten, ist für Emmi Pikler eine beständige, emotionale Beziehung von Nöten. Ihr Hauptaugenmerk richtet sie in Hinblick auf die Kompetenzen auf die freie Bewegungsentwicklung bei Kindern. Einerseits können sich Kinder im so genannten „Pikler-Spiel Raum“ (Pichler-Bogner, S.1 [online])ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend verhalten und andererseits widmen sich die PflegerInnen zu bestimmten Zeiten den einzelnen Kindern (vgl. Pikler 1988, S.68).

Stellt eine dauerhafte Trennung von der Mutter zwar einen großen Risikofaktor für die gesunde Entwicklung dar, hängt es dennoch von der Qualität des Fremdbetreuungsangebotes ab, inwiefern dieser Risikofaktor zur Ausprägung kommt. Da die Kinder im Lóczy einem solchen Risiko ausgesetzt sind, entwickelt Emmi Pikler ein „pädagogisches System, das nicht die Mutter-Kind Beziehung in den Mittelpunkt stellt, sondern ein Ersatzmilieu schafft, welches dennoch eine sichere emotionale Bindung als Grundlage für eine weitere Entwicklung ermöglicht“ (Bürgel 2004, S. 25). Welche Schwerpunkte sie bei der Bindung zwischen PflegerIn und Kind setzt, werde ich schließlich im Punkt 2.3. ausführlich herausarbeiten.

2.2. Lieselotte Ahnerts Darstellungen:

Lieselotte Ahnert beschäftigt sich in ihrer Forschung mit außerfamiliären Fremdbetreuungsangeboten, d.h. sie berücksichtigt sowohl private Arrangements als auch öffentliche Einrichtungen. Vor allem beachtet Lieselotte Ahnert in ihren Untersuchungen Krippen, Kindertagesstätten und Tagesmütter. (vgl. Ahnert 2004, S.256)

In ihren Darstellungen ist es notwendig, dass während der Abwesenheit der Eltern, der/die FremdbetreuerIn eine Beziehung zu dem ihm/ihr anvertrauten Kind aufbaut. Wesentlich an diesem Betrachtungspunkt scheint zu sein, „dass Eltern als primäre Betreuungspersonen die wesentlichsten Einflussgrößen im Aktionsraum eines Kleinkindes sind, insbesondere wenn es sich dabei um eine völlig fremde Umgebung handelt“ (Ahnert 2004, S. 256). Folglich sind die Kinder verunsichert, wenn sie irgendwo alleine von ihren Eltern zurückgelassen werden, sofern nicht andere Personen die Rolle des vertraut Machens mit der neuen Situation übernimmt. Lieselotte Ahnert zitiert dabei eine Studie von Cummings und Mitarbeiter, die ergab, dass ErzieherInnen im Zuge einer stabilen Tagesbetreuung zu sicherheitsgebenden Personen werden können, deren Nähe auch vom Kind gesucht wird (vgl. Ahnert 2004, S. 263). Schließlich können anhand von immer wieder auftretenden Interaktionen auch zwischen Betreuungsperson und dem Kind signifikante Beziehungen aufgebaut werden. Worauf hier Lieselotte Ahnerts Darstellungen zufolge das Hauptaugenmerk gerichtet wird, werde ich nun im Anschluss ausführen.

2.3. Gegenüberstellungen:

Während bei Emmi Pikler eine Beziehung zwischen ErzieherIn und dem individuellen Kind vor allem bei der Pflege aufgebaut wird, herrscht in anderen Fremdbetreuungseinrichtungen gemäß Lieselotte Ahnerts Beschäftigungen ein gruppenorientiertes ErzieherInnenverhalten vor.

Da Emmi Pikler mit einer speziellen Gruppe von Kindern, nämlich mit Waisenkinder, zu tun hat, muss die/der ErzieherIn versuchen, eine emotionale Bindung zu dem Kind aufzubauen. Dies erfolgt entsprechend Emmi Piklers Konzept vor allem durch eine „beziehungsvolle Pflege“ (Bürgel 2004, S. 25). Kurz skizziert sieht dies wie folgt aus: Die PflegerInnen beschäftigen sich nur zu bestimmten Tageszeiten (zur Körperpflege und zu den Mahlzeiten) mit jedem Kind einzeln, das aber sehr intensiv. Anschließend an diese „emotionale Sättigung“ haben die Säuglinge dann Zeit sich selbständig zu beschäftigen. (vgl. Bürgel 2004, S.26)

Der Grund, warum die Säuglinge nur zu bestimmten Zeiten eine besondere Zuwendung bekommen, liegt darin, dass ein(e) ErzieherIn für 8-9 Kinder verantwortlich ist. Würde er/sie sich ständig um eine intensive Bindung bemühen, hätte dies zur Folge, dass er/sie ständig von einem Kind zum anderen gerissen würde und folglich nur sehr selten eine „emotionale Sättigung“ entsteht. Vermutlich legt Emmi Pikler so großen Wert auf die „beziehungsvolle Pflege“, da sich auch Eltern bei der Pflege Zeit für ihre Kinder nehmen und die ErzieherInnen in Emmi Piklers Konzept versuchen so gut als möglich einen Ersatz für die Eltern-Kind-Beziehung darzustellen, damit keine Entwicklungsschäden bei den Kindern auftreten. Auch an der Gestaltung der restlichen Zeit, wo Kinder selbständig aktiv sein dürfen, werden Parallelen zur Eltern-Kind-Beziehung sichtbar, da auch im Rahmen der Familie das Kind keine pausenlose Zuwendung erfährt.

Im Gegensatz dazu kann man schon erahnen, dass bei Lieselotte Ahnerts Forschungen andere Schwerpunkte dargestellt werden, da es sich bei diesen Darstellungen um keinen „Familienersatz“, sondern einem „Familienzusatz“ handelt. Dies macht bereits einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten deutlich. Während die ErzieherInnen im Fremdbetreuungskonzept von Emmi Pikler einen elternähnlichen Part übernehmen, kümmern sich die ErzieherInnen in anderen Fremdbetreuungseinrichtungen nur vorübergehend um die Kinder. Interessant erscheint es, dass während Emmi Pikler großen Wert auf die „beziehungsvolle Pflege“ legt, kommt dies in Lieselotte Ahnerts Darstellungen überhaupt nicht vor. Der Grund dafür scheint wiederum an der andersartigen Konfrontationssituation zu liegen, denn Kinder in Fremdbetreuungseinrichtungen im Sinne von Lieselotte Ahnerts Illustrationen erhalten dieses Pflegeerlebnis bei ihren Eltern.

Aufschlussreich scheinen außerdem die von Lieselotte Ahnert angeführten Ergebnisse von Studien bezüglich des gruppenorientierten ErzieherInnenverhaltens zu sein, die bestätigen, „dass die Beziehungsentwicklung eines Kindes zur Erzieherin [zum Erzieher] generell über ein gruppenorientiertes empathisches Erzieherverhalten“ (Ahnert 2004, S.270) auftauchten. Dies bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes unter Berücksichtigung der restlichen Gruppe befriedigt werden. Vorrangig scheint in dieser Beziehung das Wohlbefinden der gesamten Gruppe zu sein, da die Bindungsmuster bei allen Kindern in ähnlicher Weise auftreten. Im Gegensatz zu Emmi Piklers Konzept, wo auf die einzelnen Bedürfnisse der Kinder zu bestimmten Zeiten eingegangen wird, handelt es sich bei Lieselotte Ahnerts Darstellungen um ein gruppenabhängiges Erleben, das für die ErzieherIn-Kind-Beziehung entscheidend  ist. Möglicherweise verbirgt sich hinter diesem Aspekt auch wieder die unterschiedliche Ausrichtung. Während Emmi Pikler versucht, die Kinder vor Entwicklungsschäden zu bewahren und ihnen eine notwendige Bindung zu gewährleisten, können andere Fremdbetreuungseinrichtungen bereits auf eine gefestigte Beziehung (Eltern-Kind-Beziehung) aufbauen und somit stellen die ErzieherInnen „nur mehr“ sekundäre Bezugspersonen dar. Sie sind also nicht mehr grundlegend, sondern durch den Aufbau einer ErzieherIn-Kind-Beziehung kann das Kind bereits neue Erfahrungen machen. Zudem lernt das Kind auch Beziehungen mit Altersgenossen aufzubauen. Hier scheinen diese Kinder gegenüber den Waisenkindern in Emmi Piklers Konzept einen Entwicklungsvorteil zu haben: Während sich die Waisenkinder um eine primäre Bindungsbeziehung bemühen, können andere Kinder bereits einen weiteren Schritt tätigen, indem sie neben der Eltern-Kind-Beziehung auch schon auf andere, sekundäre Beziehungen eingehen.

3.     Schluss

3.1. Resümee

Aus den unterschiedlichen Ausgangspunkten ergeben sich einige grundlegende Unterschiede, die einander, glaube ich, nicht ausschließen, sondern der eine oder andere könnte, die beiden verschiedenen Konzepte ergänzen bzw. auf Defizite aufmerksam machen. So scheint es mir z.B. interessant zu beobachten, inwieweit man von einer geglückt, aufgebauten Bindungsbeziehung auch in Fremdbetreuungseinrichtungen entsprechend Lieselotte Ahnerts Illustrationen ausgehen kann. Vielleicht kommen die Pflegebedürfnisse der Kinder auch in der Eltern-Kind-Beziehung zu kurz und bedürfen einer Ergänzung in der Fremdbetreuungseinrichtung.

3.2. ausblickende Fragen

Natürlich wirft dieses in Betracht ziehen der „beziehungsvollen Pflege“ auch die Frage auf, ob es in anders organisierten Einrichtungen überhaupt möglich ist, jedem einzelnen Kind eine solche „beziehungsvolle Pflege“ zu ermöglichen? Könnte es nicht sein, dass Eltern diesen intensiven, individuellen Kontakt mit ihrem Säugling gar nicht mit den ErzieherInnen teilen wollen? Sind Säuglinge mit dem Aufbau von diversen Beziehungen überfordert? Ist es überhaupt notwendig, dass diese beiden Konzepte sich anhand des anderen um Verbesserungsvorschläge bemühen oder stellen beide eine abgerundete Konzeption dar, die jeweils auf seine Art gut ist?

Literaturverzeichnis:

Ahnert, Lieselotte [Hrsg.]: Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2004

Bürgel, Claudia: Entwurf eines pädagogischen Konzepts für die Kleinkindkrippe orientiert am Modell von Emmi Pikler / Diplomarbeit eingereicht von Claudia Bürgel,  Wien, 2004

Datler, Wilfried/ Ereky, Katharina/ Strobel, Karin: Alleine unter Fremden. Zur Bedeutung des Trennungserlebens von Kleinkindern in Kinderkrippen. In: Datler, Wilfried/ Eggert-Schmid Noerr, Annelinde/ Winterhager-Schmid, Luise (Hrsg.): Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12. Das selbständige Kind. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2002, S.53-77

Pikler, Emmi: Laßt mir Zeit. Die selbstständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. München: Richard Pflaum Verlag, 1988

Internetquelle:

Daniela M. I. Pichler-Bogner: Der Pikler-SpielRaum: Begleitende Eltern-Kind-Gruppe nach dem pädagogischen Konzept von Emmi Pikler. Online unter: URL: http://www.pikler-hengstenberg.at/pdf/Pikler-SpielRaum.pdf [30.11.2007]